Kein Mitspracherecht

Das Ereignis

Ich machte gerade einen Hausbesuch bei einer Frau mit indischen Wurzeln, die nicht mehr lange zu leben hatte. Ihr Mann und ihre zwei Töchter waren auch zu Hause. Ihre Familie übernahm das Sprechen für sie, obwohl sie sehr wohl Englisch konnte. Ich hatte das Gefühl, dass die Töchter und ihr Mann das Gespräch dominierten.

Sie baten mich um weitere Behandlungsoptionen und weiterführende Chemotherapie. Ich fühlte mich unwohl, weil ich spürte, dass die Patientin mir etwas sagen wollte, aber nicht zu Wort kam. Ich spürte irgendwie, dass sie mit den Vorschlägen der Familie nicht einverstanden war.

Ich bat um eine Tasse Tee und um ein wenig Platz, damit ich die Patientin versorgen konnte. Als die Familie das Zimmer verließ, setzte ich mich neben die Patientin auf die Couch und fragte, was sie wollte. Sie antwortete, dass sie keine weitere Behandlungen, sondern friedlich und natürlich sterben wollte. Sie wollte ihre Familie nicht verletzen, aber sie fühlte sich nicht dazu in der Lage, das für sich auszusuchen, was sie eigentlich wollte.

Meiner Meinung nach wurden ihre Bedürfnisse von der Familie nicht erfüllt. Sie hatte kein Mitspracherecht. Ich sprach dann mit der Familie über andere Optionen, etwa ein Hospiz oder die Aufnahme in ein Krankenhaus kurz vor dem Ende. Die Familie war unerbittlich, sie ließen nicht davon ab, dass sie weiter Behandlung für die Frau in Anspruch nehmen wollten, um ihr Leben zu verlängern.

Normalerweise hätte ich die Familie herausgefordert, der Patientin zuzuhören, aber in diesem Fall fühlte ich mich unwohl. Ich wusste nicht genug über deren Kultur, um dieser Frau zu helfen. Ich hatte das Gefühl, die Familie wäre patriarchal organisiert und selbst wenn ich für die Patientin einstehen würde, wäre sie dann in der Lage, ihre Position deutlich zu machen und zu verteidigen?

Die Patientin bekam keine weitere Behandlung, da ihr Gesundheitszustand schnell schlechter wurde und sie ist sehr bald darauf gestorben.

 

1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen

Erzählerin: weiblich, 62 Jahre alt, weiße Britin, in Nordirland geboren, verheiratet mit 2 Kindern und 5 Enkelkindern; leitende Krankenschwester (Macmillan Nurse), Schwerpunkt: Hospiz und Sterbebegleitung für PatientInnen am Ende ihres Lebens.

Patientin: weiblich, indische Wurzeln, Mitte 60, Krebs im Endstadium (Eierstockkrebs), spricht gut Englisch, war Hausfrau, verheiratet mit 2 Töchtern, die zwischen 30 und 40 Jahren alt sind.

Ehemann der Patientin: männlich, indische Wurzeln, Mitte 60.

Töchter der Patientin: indische Wurzeln, Mitte 30 und 40.

2. Setting und Kontext

Der Vorfall fand zuhause bei der Patientin statt. Die Erzählerin führte eine Untersuchung durch, die mit dem Krebsleiden der Patientin zu tun hatte. Zuerst waren alle Familienmitglieder anwesend, danach ließen sie die Erzählerin mit der Patientin alleine.

3. Emotionale Reaktion

Negativ, weil die Erzählerin der Meinung war, dass die Patientin über ihr Schicksal selbst entscheiden sollte und ob sie eine Behandlung wollte oder nicht, da es ihr Körper war. Sie war verärgert darüber, dass sie keine Zeit mit der Patientin alleine verbringen konnte.

4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat

Entscheidungsfreiheit und Individualität – die Erzählerin glaubt daran, dass es wichtig für PatientInnen ist, eigene Entscheidungen zu treffen und auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, auch am Ende des Lebens. Gerade am Ende des Lebens sollten die eigenen Bedürfnisse Priorität haben, nicht die der Familie.

Durchsetzungsfähigkeit, Selbstbewusstsein, direkte Kommunikation – die Patientin sollte die Freiheit haben, zu artikulieren, was sie sagen möchte und nicht darauf achten müssen, ihre Familie nicht zu verletzen. Ihre Stimme sollte gehört werden.

Emanzipation der Frau, gleiche Rechte für Frauen und Männer – der Mann sollte nicht mehr Macht in der Familie haben als die Frau. Frauen sollten für sich selbst einstehen und stark sein.

Die Aufgabe des Personals – PatientInnen kommen an erster Stelle, ihre Wünsche sind das wichtigste und sie sollten nicht zu etwas gezwungen werden, was sie nicht möchten. Es ist die Aufgabe der Erzählerin, dass die Patientin gehört wird.

Respekt vor der Kultur – die Erzählerin zeigte Respekt vor kulturellen Regeln, die in der Familie galten. Sie unterstützte die Frau und forderte die Familienmitglieder heraus.

5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?

Unterwürfig und hilflos, negativ.

6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)

Familienfokus – die Familie steht mehr als die Einzelperson im Fokus (eher kollektive Orientierung). Die Patientin steht am Ende ihres Lebens und weiß, wie schwierig das für die Familie ist. Sie möchte sie nicht verletzen oder beleidigen, daher versucht sie, auf Basis der Gefühle der anderen zu handeln.

Indirekte Kommunikation – anstatt ihre Wünsche und Bedürfnisse direkt mitzuteilen, wählt sie eine indirekte Kommunikation. Direkte Kommunikation wäre unhöflich und nicht wünschenswert.

7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?

Die kulturelle Orientierung hin zur Einzelperson oder zum Kollektiv ist eine wichtige Dimension von kultureller Differenz.

Im ersten Fall stellen die Individualisten die Einzelperson als „einfachste“ soziale Einheit ins Zentrum, und bevorzugen Entscheidungsfreiheit entlang individueller Präferenzen. Im zweiten Fall ist ein solches Verhalten rücksichtlos und in hohem Maße egoistisch.

Aus einer individualistischen Perspektive heraus ist es für Mitglieder einer kollektiven Kultur eher schwierig, für sich selbst einzustehen. Personal im Gesundheitsbereich muss sich diesem Unterschied bewusst sein, wenn sie andere bewerten.

Diese Geschichte zeigt auch die Herausforderungen im Management von Diversität im Allgemeinen auf. Sobald ein/e Angestellte/r der Meinung ist, dass irgendein kultureller Unterschied die Ursache für Probleme darstellt, aber das konkrete Wissen darüber fehlt, wird oftmals eine Vermeidungsstrategie gewählt: es wird nicht interveniert – aus Angst davor, unpassend in eine fremde Kultur einzugreifen.