Vorurteile beim Schwangerschaftsabbruch
Das Ereignis
Eine Frau kam ins Krankenhaus, in dem ich als Dolmetscherin arbeitete. Sie hatte einen Termin für ein kurzes persönliches Gespräch bei mir, damit ich ein Patientenblatt für sie anlegen konnte, bevor sie zu der gynäkologischen Untersuchung gehen konnte, für die sie da war. Während des Gesprächs spürte ich sofort, dass sie unruhig und mit den Gedanken ganz woanders war. Sie erzählte mir, dass sie sich sorgte, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung hatte und schwanger war.
Mir war nicht klar, ob die Patientin mit der Schwangerschaft fortfahren wollte oder nicht. Für gewöhnlich haben schwangere Patientinnen zwei Möglichkeiten: Zum einen kann man ihnen nach Absprache mit den Ärzten im Krankenhaus einen Schwangerschaftsabbruch anbieten. Die andere Möglichkeit ist, das Kind auszutragen – und das wäre mit einer aufrechten Aufenthaltsgenehmigung leichter.
Das unsichere Verhalten des Mädchens und ihrer eigene Angabe im Gespräch, Muslimin zu sein, brachte mich zu der Schlussfolgerung, dass sie ihr Kind bekommen wollte. Deswegen versuchte ich, ihr so viele Informationen wie möglich zu geben, auch über die vom Staat finanzierten Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft. Die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs erwähnte ich so gut wie gar nicht.
Erst während der gynäkologischen Untersuchung, bei der ich auch dabei war, äußerte die Patientin ihren Wunsch, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Ich war eine Sekunde lang völlig sprachlos, bis ich realisierte, dass ich mich von meinen Vorurteilen über muslimische Frauen hatte leiten lassen. Ich hatte das Verhalten der Patientin und ihre Aussagen falsch interpretiert und voreilige Schlüsse gezogen.
Nach der Untersuchung haben wir das Gespräch fortgesetzt und ich habe der Patientin die Methoden und Fristen für einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch erklärt.
1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen
Es sind 2 Frauen in die Situation involviert:
Die Erzählerin ist eine italienische Frau, die als Dolmetscherin im Krankenhaus arbeitet, das viele MigrantInnen und Flüchtlinge behandelt. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, die Patientenblätter anzulegen. Sie ist 25 Jahre alt, katholisch, offene Einstellung und Haltung gegenüber anderen;
Schwangere Frau: muslimische Frau, 28 Jahre alt, Flüchtling aus den Maghrebstaaten / Nordafrika, ist erst seit Kurzem in Italien und spricht kein Italienisch, sie sieht westlich aus.
2. Setting und Kontext
Die zwei Frauen setzten sich hin, um das Patientenblatt auszufüllen. Das Gespräch fand in einem Raum neben dem Behandlungsraum statt, der nur dazu diente, das Patientenblatt auszufüllen. Sie waren alleine und die Tür war zu. Die Dolmetscherin versuchte, der Patientin konkrete Hilfe anzubieten, hat aber die Bedürfnisse der Patientin missverstanden.
Bei ihrer Begegnung handelt es sich um ein Vorgespräch zur Untersuchung, wobei die Dolmetscherin vor der gynäkologischen Untersuchung ein Patientenblatt anlegt.
Das Treffen der beiden Frauen, die in dem Fall aus zwei unterschiedlichen sozialen Gruppen kommen, führte wahrscheinlich auch im Kontext des hohen Ansturms an Flüchtlingen in diesem Zeitraum in Italien zu einem vorprogrammierten Missverständnis.
3. Emotionale Reaktion
„Mich überkam ein Gefühl der Verzweiflung und es war mir peinlich, dass ich die Bedürfnisse der Frau nicht verstand. Ich fühlte mich für einen Moment verloren, da ich erkannte, dass ich voreilige Schlüsse gezogen hatte und ihr Verhalten und das was sie gesagt hat, falsch interpretiert hatte. Der Job einer Dolmetscherin ist es ja, Kommunikationsbarrieren zu überwinden, aber in dem Fall war ich befangen, da ich nur das verstand, was ich verstehen wollte und nicht die richtigen Fragen stellte.“
4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat
Hilfsbereitschaft und interkulturelles Verständnis:
Die Dolmetscherin zeigt viel Hilfsbereitschaft. Sie wollte der Patientin alle möglichen Lösungen anbieten, damit sie mit der Schwangerschaft fortfahren kann. Sie hat versucht, auf die Bedürfnisse und Anforderungen der Patientin einzugehen – auch unter Berücksichtigung der Aussagen der Patientin, dass ihr eine Aufenthaltsgenehmigung fehle und über ihre Religion. Die berufliche Identität der Dolmetscherin ist darauf ausgelegt, einfühlsam anderen Menschen zu helfen.
Interkulturelle Kommunikation:
Die Kommunikation ist für DolmetscherInnen das wichtigste Werkzeug, um Menschen zu verstehen und ihnen entsprechende Lösungen anzubieten. In diesem Fall war es ein interkulturelles Missverständnis, das die Ausübung ihrer Tätigkeit beeinträchtigt hat.
5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?
Die Erzählerin hat bedauert, dass sie die Bedürfnisse der Frau nicht verstehen konnte. Das Bild, das sich dabei abzeichnet, ist ein negatives Bild von sich selbst, und nicht der anderen Frau. Das Bild der anderen Frau war eher neutral.
6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)
1) Entscheidungsfreiheit und Möglichkeit, ihre Religion selbst zu deuten
Es liegt nahe, dass die Patientin ein weit gefasstes Verständnis ihrer Religion hatte, sich selbst zwar als Muslimin beschreibt, aber ihre Religion nicht streng ausübt. Viele Religionen stellen heute eher ein Kulturgut dar, mit dem man aufwächst, und das Ausmaß der Auseinandersetzung damit kann variieren. Jemand, der katholisch ist, kann zum Beispiel Weihnachten feiern oder in die Messe gehen, ohne besonders religiös zu sein.
Dass sie in dieser Situation ihre Entscheidungsfreiheit nutzte, könnte auch damit zusammenhängen, dass sie sich nicht mehr in ihrem gewohnten, familiären und religionsbezogenen Umfeld befindet und somit auch von diesen Verhaltensnormen „befreit“ wurde.
2) Kritische Auseinandersetzung / Rationalität
Sie hat sich vielleicht schon kritisch damit auseinandergesetzt, dass sie in Italien kein familiäres Unterstützungssystem hat, mit dem sie das Kind großziehen könnte.
3) Entscheidung aus freien Stücken oder aus der Situation heraus
Als Flüchtling musste die Patientin ihre eigene Sicherheit berücksichtigen und über die Konsequenzen der Schwangerschaft nachdenken. Wir können daher davon ausgehen, dass sie die Konsequenzen, die eine Schwangerschaft mit sich bringt, sowie die Tatsache, dass sie sich alleine um das Kind kümmern muss, in ihrer Situation in Betracht gezogen hat. In diesem Sinne können wir nicht zu 100% sicher sein, dass die Entscheidung, die Schwangerschaft zu unterbrechen, wirklich eine Handlung im Sinne der Entscheidungsfreiheit gewesen ist, sondern dass sie sich gezwungen sah, diese Entscheidung in Anbetracht ihrer Situation zu treffen.
7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?
Dieser Fall unterstreicht, dass man in der beruflichen Praxis leicht in Situation des Selbstschocks geraten kann. Die Dolmetscherin war sich ihrer eigenen Vorurteile gegenüber schwangeren Musliminnen gar nicht bewusst.
Die interkulturelle und fachliche Perspektive der Dolmetscherin – ihr Credo quasi – lautet „wir müssen verstehen“. Allerdings ist interkulturelles Verständnis nicht eine Frage des (Vor)Wissens über kulturelle oder religiöse Unterschiede, sondern die Fähigkeit, Fragen in einer verständnisvollen, nicht-hierarchischen und gleichberechtigten Rahmen zu stellen und damit Respekt für Vielfalt zu zeigen.