Hände schütteln

Das Ereignis

Es ist der erste Tag meines freiwilligen Praktikums und ich betrete ein Klassenzimmer, in dem einige der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge warten, um die sich das Projekt kümmert. Die erste Person, die auf mich zukommt, wirkt ein bisschen wie der Klassenclown. Er begrüßt mich, indem er meine Hand schüttelt und unterhält sich mit mir. Er kommt mir sehr nahe und interagiert mit mir von Anfang an auf eine recht körperliche Art. Der Großteil der anderen Jugendlichen, die alle männlich sind, gehen, seinem Beispiel folgend, in der gleichen Weise auf mich zu. Sie kommen zu mir hinüber, schütteln meine Hand, lachen und führen Small Talk mit mir. Einer der Jungen im Raum wirkt eher schüchtern. Deswegen gehe ich auf ihn zu, stelle mich vor und strecke meine rechte Hand aus, um ihn zu begrüßen. Er nimmt meine Hand nicht zum Gruß, sondern verdreht seinen rechten Arm und gibt mir seinen Unterarm zum Schütteln. Ich bin bestürzt, dass er meine einfache Geste des Grußes verweigert. Vor allem, da alle anderen Jugendlichen mich von sich aus mit Händeschütteln begrüßt haben. Ich habe ihnen doch nur Folge geleistet, als ich auf den Jungen zugegangen bin. Respektlos!

Die anderen Jugendlichen versuchen zu erklären: “Er fasst keine Frauen an.” Aber sie scheinen ihn auch auszulachen. Oder lachen sie etwa mich aus, ich weiß es nicht. Ich fühle mich ziemlich aufgewühlt, irritiert und verwirrt. Gleichzeitig will ich der Situation auch nicht zu viel Gewicht geben, weswegen ich meine Irritation überspiele und zu Small Talk übergehe. Nichtsdestotrotz bin ich total wütend. Nicht nur, dass er meine Geste zum Gruß ausschlägt, er wertet mich zudem ab, weil ich eine Frau bin.

Später, als ich die Situation reflektiere, bin ich immer noch erschüttert und aus dem Gleichgewicht gebracht, aber ich wundere mich auch ein wenig über mich selbst: Warum hat mich diese Situation so verärgert? War sie nicht vielleicht zu erwarten gewesen? Warum habe ich mich im Vorhinein nicht mehr damit beschäftigt, wie ich auf die Flüchtlinge zugehen werde?

1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen

Die Erzählerin ist eine Psychologin in Ausbildung, aus München, die in Wien studiert. Sie ist 21 Jahre alt und wuchs in einem akademischen, liberalen Elternhaus auf. Sie hat 3 Geschwister, ihre Eltern sind VolksschullehrerInnen, die sich seit vielen Jahren aktiv in der Flüchtlingshilfe einsetzen. Als Teenager war die Erzählerin politisch sehr aktiv, Mitglied der Grünen Jugend und in feministischen und antifaschistischen Zusammenhängen engagiert. Mittlerweile ist sie nicht mehr in organisierten politischen Kontexten aktiv, empfindet sich aber immer noch als politische Person. Sie interessiert sich dafür, unterschiedliche Länder und Personen diverser Hintergründe kennenzulernen. Sie wurde christlich sozialisiert, ist aber aus der Kirche ausgetreten. Sie erzählt, dass sie bereits mehrfach sexuelle Übergriffe erlebt hat, weswegen sie einen „Hass auf Männer“ entwickelt habe.

Die Person, die den Schock auslöst, ist ein unbegleiteter Flüchtling (16 oder 17 Jahre alt) aus Somalia. Er ist praktizierender und sehr gläubiger Moslem. Die Erzählerin beschreibt ihn als schüchtern wirkend und still. Er lebt noch nicht sehr lange in Österreich.

Zudem sind weitere Teenager im Raum und tragen zur Entwicklung der Situation bei: 10 andere unbegleitete Flüchtlinge im Alter zwischen 16 und 18, aus unterschiedlichen Ländern (vor allem aus Afghanistan und dem Irak). Die Jugendlichen leben in einer Unterkunft am Rande Wiens, nicht in der Nähe des Zentrums, in dem sich der Vorfall abspielt. Sie haben sehr unterschiedliche Hintergründe (sozial, national, religiös etc.).

Die Erzählerin ist nicht so viel älter als der Junge, der den Schock bei ihr auslöst, aber fast alle anderen sozialen Charakteristika unterscheiden die beiden: ihr Geschlecht, ihr Zugang zu Religion, die Religion, mit der sie sozialisiert wurden, die geografische Region, in der sie aufgewachsen sind und vor allem die Erfahrung der Flucht, die der Teenager gemacht hat.

2. Setting und Kontext

Der Vorfall ereignete sich im Klassenzimmer eines NGO-Zentrums, das vom Projekt, bei dem die Erzählerin mitarbeite, genutzt wurde. Das Zentrum befand sich in einem klassischen Arbeiterviertel in Wien.

Die Erzählerin betrat an ihrem ersten Praktikumstag den Klassenraum, wo schon einige Flüchtlinge anwesend waren. Sie hat im Vorfeld etwas Information erhalten, aber keine Ausbildung oder Ratschläge, wie sie sich verhalten sollte. KeineR der anderen MitarbeiterInnen war anwesend, als sie den Raum betrat. Die Erzählerin hatte das Gefühl, schlecht vorbereitet zu sein und war dementsprechend etwas unsicher. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie das Interesse der Teenager auf sich ziehen würde, da sie eine junge, blonde Frau ist und die anderen MitarbeiterInnen alle viel älter sind und die Flüchtlinge vorwiegend mit Männer zusammen wohnten. Im Klassenzimmer war es laut und es ging sehr chaotisch zu.

Zusätzlich sei erwähnt, dass die Erzählerin nicht wusste, was die Geste des Jungen zu bedeuten hatte. Sie wusste nur, dass es aufgrund der Tatsache geschah, dass sie eine Frau ist und dachte, es wäre ein Symbol um Frauen abzuwerten.

3. Emotionale Reaktion

Schockiert und wütend. Ich fühle mich respektlos behandelt und weiß nicht, wie ich weiter agieren soll. Ich versuche, meine Wut zu unterdrücken und die Situation herunterzuspielen. Die anderen Jugendlichen lachen und ich weiß nicht, warum und fühle mich deswegen unsicher.

Ich fühle mich im Nachhinein noch immer abwertend behandelt und kann die Aktion nicht akzeptieren. Ich bin nach wie vor über meine eigene Naivität verwundert.

4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat

Alle Menschen sind gleich, unabhängig von kulturellem Hintergrund oder Geschlecht und sollten dementsprechend mit Respekt behandelt werden. Dadurch, dass alle Menschen gleich sind, sollten sie auch gleich behandelt werden. Wenn Menschen unterschiedlich behandelt werden, ist dies ein Zeichen von Abwertung und Diskriminierung, vor allem wenn es um Geschlechterunterschiede geht.

Es ist ein Zeichen von Respekt, wenn man andere als gleichwertig behandelt. So sollten auch bei der Begrüßung keine geschlechterspezifischen Unterschiede gemacht werden, jedeR wird auf die gleiche Art und Weise begrüßt.

Bei der Begrüßung beginnt die Interaktion zwischen zwei Personen. Durch das Begrüßungsritual wird die Bereitschaft der beiden Personen, in Kontakt zu treten, signalisiert. Während des Begrüßungsrituals werden soziale Positionen bestimmt. Man denke nur, wie früher Männer Frauen die Hand geküsst haben, und nicht, wie anderen Männern, die Hand zum Gruß gereicht. Die Form der Begrüßung weist nicht nur auf das soziale Verhältnis der beiden Personen hin, sondern auch auf ihre persönliche Nähe oder Distanz (FreundInnen, KollegInnen, Vorgesetzte). Händeschütteln zwischen zwei Personen bedeutet, dass sich beide Personen auf der gleichen Ebene begegnen und sich dabei nicht unbedingt persönlich kennen müssen.

Durch die Nichtbefolgung der beabsichtigten Begrüßung hat der Teenager das Angebot, das ihm die Erzählerin gemacht hat (bezüglich Art des Kontakts und der sozialen Beziehung), ausgeschlagen. Damit entzieht er der Interaktion nicht nur den Rahmen, den die Erzählerin ihr geben wollte, sondern auch den gegenseitigen Respekt, der mit dem Händeschütteln einhergeht. Das Nichthändeschütteln ist gleichbedeutend für die Ablehnung der Kontaktaufnahme.

Geschlechtergerechtigkeit: Die Situation wäre nicht entstanden, wäre die Erzählerin ein Mann. Das Abwerten der Erzählerin als Frau hat ihr Selbstverständnis als selbstbewusste und autonome Frau beschädigt.

Darüber hinaus fühlt sich die Erzählerin infolge des Verhaltens des Flüchtlings unter Druck gesetzt, ihre liberale Einstellung gegenüber „Fremden“ zu verteidigen. Der Zwischenfall positioniert sie als „Deutsche / Österreicherin“ gegenüber den Flüchtlingen. Somit fühlt sie sich verpflichtet, ihre Vorstellung von Gleichheit durchzusetzen. Ihre Sicht, dass Gleichberechtigung nicht kulturspezifisch ist, wird herausgefordert.

Sie fand es aber wichtig zu erwähnen, dass es auch in Österreich Geschlechterungleichheit gibt.

Die Erzählerin legt sehr viel Wert darauf, Fremde mit Respekt zu behandeln. Das gilt für sie, aber auch für die Flüchtlinge, die nach Österreich kommen, von denen sie erwartet, ihr mit dem gleichen Respekt zu begegnen.

Gleichzeitig bringt ein respektvoller Umgang mit Personen anderer Herkunft mit sich, dass man sich an kontextbezogene Werte und Verhaltenscodes anpassen muss. Die Erzählerin ist in Ländern, die sie bereist, weniger irritiert von einer ungleichen Behandlung von Männern und Frauen, da die Geschlechterunterschiede jeweils in der Landesgeschichte verankert oder Teil der Weltanschauung sind. Sie ist aber nicht damit einverstanden, wenn diese Traditionen in einen österreichischen Kontext übertragen werden, auch nicht von Flüchtlingen (Zwangsmigration). Im Anschluss daran stellt sich die Frage, wessen Ideen in einem sozial-kulturellen Kontext legitimer Weise umgesetzt werden können: Unterschied zwischen Einheimischen und Gästen.

Durch das Leben in einer globalisierten Welt haben die Menschen Vorstellungen davon, wie das Leben in verschiedenen Regionen ist. Vor allem dadurch, dass mittlerweile viele Flüchtlinge nach Europa gekommen sind, erwartet die Erzählerin, dass sie darüber Bescheid wissen, dass es in westlichen Ländern andere Werte und Verhaltensregeln gibt, und etwa auch die Begrüßungsformen kennen.

Selbstbild als helfende Person:

Das Selbstbild der Erzählerin war in Gefahr, weil ihre Sicht auf sich als helfende Person daran hängt, dass sie im Gegenzug Dankbarkeit empfängt. Flüchtlinge, die unterstützt werden, sollten Dankbarkeit zeigen. Die Erzählerin zieht daraus Wertschätzung. Dadurch, dass der Junge die Erzählerin nicht begrüßt und den Handschlag verweigert hat, ist diese gegenseitige Wertschätzung nicht gegeben. Er zeigt auch keine Anerkennung für die Arbeit und Hilfsbereitschaft der Erzählerin.

Helfen steht für Umsorgen und Kümmern, aber auch für das Ausüben von Kontrolle.

Wer hilft, der/die kriegt auch etwas zurück: das Gefühl etwas moralisch Wertvolles getan zu haben, das Gefühl der Wertschätzung

Die helfenden Personen schaffen in der Regel die Bedingungen, unter denen die Begegnung mit Flüchtlingen stattfindet. Die Flüchtlinge werden in diesem Fall als passive Hilfsempfänger gesehen. Die Person, die den Schock verursacht hat, hielt sich nicht an das typische Format der Begegnung, indem er die angebotene Begrüßung ablehnte.

5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?

Der Flüchtling wird dargestellt als:

  • respektlos.
  • arrogant, da er glaubt, die Situation richtig einschätzen zu können.
  • ein konservativ denkender junger Mann, der glaubt, Frauen überlegen zu sein.
6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)

Es gibt bestimmte Regeln der sozialen Organisation und Interaktion, denen der Flüchtling einen hohen Stellenwert einräumt und an die er sich hält.

Er ist aus seinem Heimatland geflohen, in Österreich ist er auf sich allein gestellt. In dieser Situation hält er an tradierten, für ihn bedeutsamen Verhaltensregeln fest. In dem Moment, in dem alles auseinanderzufallen droht, orientiert er an seinen eigenen Routinen, die im vertraut sind. Man kann spekulieren, dass er von der Situation überwältigt war und nicht wusste, wie er zu handeln hatte. Konfrontiert mit Unsicherheit, wählt er die Grußform, die ihm vertraut ist.

Das Nichtberühren von Frauen ist eine Norm, die er nicht brechen will. (Festhalten an sozialen Normen auch in ungewohnten Situationen)

Grenzen setzen:

Vor allem, weil sich die anderen Flüchtlinge anders verhielten, wollte er sich von ihnen absetzen und weder eine Verbindung zu ihnen, noch zu der Erzählerin herstellen, sondern zu seinem eigenen kulturellen Hintergrund.

Vielleicht handelt es sich um die Ausübung von Handlungsmacht, sich nicht externen Erwartungen zu unterwerfen, die durch die VertreterInnen des Projekts etwa an ihn herangetragen werden. Vielleicht setzt er sich damit auch gegen die passive Vorstellung von Flüchtlingen zur Wehr.

Die Grenzen, die er gesetzt hat, beziehen sich auch auf die Art des Körperkontakts, die für ihn annehmbar ist –Körperkontakt könnte für ihn entlang von Geschlechterdifferenz reguliert sind, aber auch entlang von Altersdifferenz oder nach Nähe der Bekanntschaft.

Eine ungleiche Behandlung von Männern und Frauen ist nicht gleichbedeutend mit Abwertung. Das Nichtberühren von Frauen ist eher ein Zeichen der Anerkennung gegenüber dem anderen Geschlecht. Es könnte auch ein Zeichen des Respekts gegenüber älteren Menschen sein, da die Erzählerin älter ist als er.

7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?
  1. Divergierende Wertesysteme und Verhaltensregeln

Bei Personal, das im Flüchtlingsbereich arbeitet, kann es zu Konflikten zwischen den eigenen Werten und den Wertesystemen der Personen, mit denen sie zusammenarbeiten, kommen. Diese Konflikte offenbaren sich in konkreten Interaktionssituationen. Doch sie bleiben oft implizit und werden nur in nonverbaler Kommunikation ausgedrückt. Die Frage, wie mit solchen Situationen, in denen unterschiedliche Wertesysteme und Verhaltenskodexes aufeinandertreffen, umgegangen werden kann, liegt im Zentrum der Reflektion über Flüchtlingsarbeit. In Anbetracht des Beispiels erscheint es wichtig, auf das konkrete Erlebnis einzugehen, das einen Schock  verursacht hat. Dabei sollte explizit gemacht werden, was genau den Schock ausgelöst hat und welche Emotionen hervorgerufen wurden. Wie sich gezeigt hat, bleibt oft unklar, wofür eine Geste wirklich steht und was damit gemeint ist. Der Vorfall verweist auf die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation, um Schockerfahrungen zu erkennen und die Bedeutung von gemeinsamer Aushandlung von Praktiken, die beide Seiten ernst nehmen.

  1. Training und Anleitung von Freiwilligen

Freiwillige (aber auch viele Fachleute), die mit Flüchtlingen arbeiten, werden vorab oft nicht entsprechend eingeschult oder vorbereitet. Sie müssen daher nicht nur über die Inhalte ihrer Arbeit, sondern auch über die sozialen Komponenten aufgeklärt werden – d.h. Schulung von Soft Skills, Kommunikation und Techniken der Reflexion. Außerdem sollte ein System eingerichtet werden, bei dem die freiwilligen HelferInnen von MentorInnen durch den Prozess begleitet werden, und die Möglichkeit zur Supervision erhalten. Vor allem Freiwillige sollten ihre Motive und Erwartungen im Vorfeld hinterfragen.

Eine weitere wichtige Dimension ist, über stereotype Darstellungen von Flüchtlingen nachzudenken und wie Flüchtlinge bei der Ausübung von Handlungsmacht unterstützt werden können. Eine Idee ist es, Möglichkeit zu schaffen, bei denen sich Flüchtlinge abseits von Flüchtlingshilfe mit der Zivilgesellschaft, in die sie geflohen sind, auseinandersetzen und die neue Wertesystemen, Ideen und Verhaltensregeln erforschen können.