Warum ist alternative Medizin so beliebt und was lernen wir über das europäische Gesundheitssystem in einer chinesischen Klinik?

Verfasst von Diana Szántó, Ungarn

Quellenangabe

Zörgő, S.; Purebl, G.; Zana, Á.; Orvosi, H. (2016): A komplementer és alternatív medicina felé orientálódó terápiaválasztást meghatározó tényezők (Faktoren, die die Wahl der komplementären und alternativen Medizin erklären, übers. CW). In: Eredeti közlemény 157, évfolyam, 15. Szám: 584–592.

Einleitung

Dieser Artikel behandelt eine breite Frage: Warum wenden sich Menschen, die in einer europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts leben, von der Biomedizin ab, um Abhilfe für ihre gesundheitlichen Probleme in alternativen Heilungsmethoden zu suchen? Die AutorInnen suchen nach einer Antwort, basierend auf einer Langzeit-Feldforschung seit 2014, die in einer chinesischen Klinik in Budapest durchgeführt wurde. Ihre Forschung beleuchtet die Tatsache, dass jedes gegebene medizinische System – einschließlich dem biomedizinischen – immer auch ein kulturelles System ist. Die PatientInnen, die die chinesische Klinik besuchen, kombinieren verschiedene kulturelle Systeme und bewegen sich frei zwischen diesen.

Über Komplementär- und Alternativmedizin in einer vergleichenden Perspektive

Die Verwendung von Komplementär- und Alternativmedizin (KAM) gewinnt überall in den westlichen Gesellschaften an Popularität. Eine Studie aus dem Jahr 2002 ergab, dass 36–42% der Bevölkerung der USA solche Behandlungsmethoden anwendeten. In Europa waren es 56% der Bevölkerung, während in Ungarn nur 23,1% eine alternative medizinische Behandlung wählten. Allerdings macht der zeitliche Unterschied (die ungarische Statistik ist aus 1989) Vergleiche schwierig. Nationale Statistiken sind selten vergleichbar, jedoch weisen große Unterschiede meist auf unterschiedliche soziale Kontexte und kulturelle Systeme hin. Zum Beispiel wenden sich in Ghana 73,5% der KrebspatientInnen traditionellen Heilmethoden zu, verständlich in einer Situation, in der die meisten Menschen sich die westliche medizinische Behandlung nicht leisten können. Es ist allerdings überraschend, dass, nach einer anderen Studie, 83% der europäischen KrebspatientInnen ebenso alternative medizinische Behandlungsformen anwenden. Die AnwednerInnen von KAM ähneln sich in einigen soziodemografischen Merkmalen: Oft sind es gut ausgebildete Frauen im mittleren Alter mit langdauernder Krankheit.

Die Popularität von KAM trägt zur Verbreitung von Dienstleistungen bei. Zur gleichen Zeit beeinflusst die Verfügbarkeit dieser Dienste gängige Konzepte von Krankheit, Gesundheit und Heilung und macht die Menschen offener für KAM. Allerdings reicht diese kreisförmige Beziehung allein nicht aus, um zu erklären, warum einzelne BenutzerInnen zunehmend auf alternative medizinische Behandlungen umsteigen. Um diese Entscheidungen besser zu verstehen, untersuchen die AutorInnen weitere Faktoren.

Faktoren, die die Wahl von Komplementär- und Alternativmedizin beeinflussen

Diese Faktoren können in drei große Kategorien unterteilt werden: Marktwettbewerb, Informationsfluss und kulturelle „Kreolisierung“. Diese drei Kategorien überlappen sich.

Kulturelle Kreolisierung ist zwar ein spontaner Prozess, jedoch haben Politik, Regulierung und das institutionelle System großen Einfluss darauf. Die Politik beeinflusst, welche Dienstleistungen verfügbar, anerkannt und mit Prestige ausgestattet sind. In Ungarn genießt die traditionelle chinesische Medizin (TCM) eine hohe Popularität und ein relativ hohes Prestige, wie das Projekt, ein TCM-Zentrum in Budapest zu schaffen, zeigt. Marktwettbewerb – unterstützt oder behindert durch den Staat – beeinflusst die Verfügbarkeit und Auswahl verschiedener Dienstleistungen und auch das Vorhandensein unterschiedlicher Weltanschauungen. In Zeiten der Globalisierung stehen Individuen in Kontakt mit einer Vielzahl von Weltanschauungen und es steht ihnen nicht nur frei, zu wählen, sie sind dazu auch verpflichtet. Sie müssen ihr eigenes hybrides Kultursystem aus verschiedenen Elementen zusammensetzen.

Informationstechnologie macht eine Vielzahl von Ideen, Vorstellungen und Weltansichten verfügbar. Im Prinzip hat das Internet Informationen fast grenzenlos zugänglich gemacht, aber in der Praxis neigen die Menschen dazu, die Informationen nach ihrer Weltanschauung zu filtern, bevor sie auf sie zugreifen. Weil kulturelle Institutionen ihre Glaubwürdigkeit in der späten Moderne verlieren, muss Authentizität anderswo gefunden werden: in persönlichen Erfahrungen und in primären Beziehungen. Wenn es um Entscheidungen für oder gegen Therapien geht, hören die Leute eher auf ihr soziales Umfeld als auf Behörden. Die Kombination aus verschiedenen Weltanschauungen führt zu mosaikartigen, synkretischen Kultursystemen. Das Selbst ist „geteilt, hybrid, oft inkohärent, inkonsistent“ (586, übers. CW).

Bei KAM geht es nicht nur um alternative Dienstleistungen, sondern auch um alternative Weltansichten. Diejenigen, die an KAM glauben und die entsprechenden Methoden praktizieren, neigen dazu, „ökologische Nachhaltigkeit, kulturelle Vielfalt, sozialen Optimismus und Spiritualität“ zu unterstützen. Ein amerikanischer Autor erfand den Begriff „kulturelle Kreative“, um das kulturelle System dieser Gemeinschaft zu beschreiben. Zörgő u. a. entlehnen diesen Begriff und scheinen nahezulegen, dass er für KAM-AnwenderInnen in Ungarn übertragbar ist. Die kulturelle Kreolisierung in der Medizin wirkt sich auf zwei sehr wichtige Bereiche aus: die Definition von Gesundheit und die Ätiologie (Ideen, die sich mit den Ursachen oder dem Ursprung einer Krankheit befassen).

KAM findet ihren Platz in den Lücken, die das biomedizinische Modell nicht ansprechen kann: Schmerz und Leiden – und die Fähigkeit, diesen Erfahrungen einen Sinn zu geben.

Das Feld

Die Studie basiert auf Informationen von 150 PatientInnen aus der chinesischen Klinik in Budapest. Die Ergebnisse, die über die Beantwortung der ursprünglichen Forschungsfrage hinausgehen, beleuchten auch die Erwartungen der PatientInnen an Medizin und Therapie im Allgemeinen. Mit anderen Worten, jenseits der theoretischen Frage „warum die Menschen sich der chinesischen Medizin für Heilung zuwenden“, beantwortet die Studie auch eine praktischere Frage nach Möglichkeiten der Anpassung der biomedizinischen Medizin an die nicht Bedürfnisse der zufrieden gestellten PatientInnen.

Die am weitesten verbreiteten dieser Bedürfnisse beziehen sich auf die Beziehung zwischen PatientIn und Arzt/Ärztin. Die PatientInnen schätzen die Zeit, die der Arzt/die Ärztin bereit ist, mit ihnen zu verbringen, die vermittelte Aufmerksamkeit, die sie erhalten, und sie sind sich auch des nonverbalen Ausdrucks von Sorgfalt und Sympathie des Gesundheitspersonals bewusst. Die medizinische Kommunikation wird auch in vielen Fällen als gewaltsam erlebt, vor allem im Augenblick der Offenbarung einer Diagnose und einer (negativen) Prognose.

Ein weiterer Faktor, der KAM attraktiv macht, ist die Tatsache, dass Biomedizin keine Therapie für alle Krankheiten auf allen Stufen hat oder die Therapie, die sie bietet, zu viele negative Nebenwirkungen hat. Es ist in beiden Fällen nicht ungewöhnlich, dass KAM komplementär zu traditionellen biomedizinischen Behandlung angewendet wird.

Ein weiterer Grund für die Wahl der KAM bezieht sich allgemein auf die Identität der Person und auf die Weltanschauung, mit der sie sich identifiziert. Zörgő u.a. nennen diesen Faktor „philosophische Kongruenz“. Menschen, die eine Form orientalischer körperlicher Betätigung oder Diät praktizieren, sind offener für KAM. Eine ganzheitliche Weltanschauung, die der körperlichen und spirituellen Identität der Person gleichermaßen Bedeutung zuschreibt, kann auch ein guter Indikator für die Offenheit gegenüber KAM sein.

KAM hat da Stärken, wo die Biomedizin ihre Schwächen hat: dem Individuum ist ein tiefgehendes Bedürfnis inhärent, Ordnung im Chaos zu schaffen, das seine Welt ausmacht. Eine wiederkehrende Beschwerde von PatientInnen, die sich in biomedizinischer Behandlung befinden, ist die mangelhafte Erklärung der Krankheit oder die Weigerung des Arztes/der Ärtzin, ihre eigene Erklärung anzuhören. Wenn die Biomedizin keine akzeptable Erklärung anbietet oder keine überzeugende Heilung verspricht, können sich die Menschen entmachtet und ihrer Krankheit gegenüber hilflos fühlen. Die Umstellung auf KAM könnte in diesem Fall als ein aktiver Schritt interpretiert werden, um ihre Heilung „selbst anzupacken“. Mit dem Verlust des Vertrauens in die Biomedizin droht ein Versinken im Chaos, wenn man keine glaubwürdige Alternative findet. Solch ein Vertrauensverlust kann aufgrund einer späten oder unzureichenden Diagnose, unerträglichen Nebenwirkungen einer biomedizinischen Behandlung, einer tödlichen Prognose oder durch den Kommunikationsstil, der als Entfremdung erlebt wird, verursacht werden.

KAM hilft, eine neue Ordnung im Chaos zu finden, indem sie einen neuen Kosmos im somatischen, moralischen und kognitiven Sinn vorschlägt. Es ist wichtig, dass der vorgeschlagene Heilungsweg mit der Ätiologie übereinstimmt, mit der sich die Person identifizieren kann. Die AutorInnen führen das Beispiel eines Patienten an, der glaubt, dass Krebs keine unabhängige Krankheit ist, sondern ein Zeichen eines schwachen Immunsystems ist. Er wollte keine Chemotherapie, aus Angst, seine Immunabwehr weiter zu schwächen. Traditionelle biomedizinische Behandlungen, die besonders auch mit Medikamenten arbeiten, sind oft mit einer Lebensweise assoziiert, die sich weitab von Natur und Spiritualität bewegt. KAM hilft in solch einem Fall, einen Weg zurück zu einer mythologischen Nähe zur Natur zu finden und kann als eine Form der Kritik an der kapitalistischen Lebensweise interpretiert werden, wo die Behandlung weitgehend in den Händen der pharmakologischen Industrie liegt.

Eine verbreitete Form der Ätiologie macht alle Arten von somatischen Krankheiten an psychischen Zuständen fest. Dieser erklärende Mechanismus ist auch ein Mittel, um das Gefühl der Machtlosigkeit zu bekämpfen, das durch das Chaos verursacht wird, da es dem Patienten/der Patientin nahezu unbegrenzte Macht gibt, seine/ihre Krankheit zu beeinflussen, indem er/sie auf seinen/ihren psychischen Zustand einwirkt.

Schließlich kann eine mögliche Ursache der Popularität von KAM dadurch erklärt werden, was die AutorInnen „die Notwendigkeit, den Kosmos zu erweitern“ nennen. Viele Leute sagen aus, sie kämen nur aus Neugier in die chinesische Klinik oder weil sie offen für alle Behandlungen, die der Gesundheit dienen, seien. Zur gleichen Zeit ist die Anziehungskraft von KAM auf eine Person stark von ihren kulturellen Werten abhängig. Wie bereits erwähnt, könnte die Affinität zu anderen gesundheitsorientierten Verhaltensweisen, etwa östlicher Philosophie und Sport, die Offenheit gegenüber KAM erhöhen. Es ist in dieser Hinsicht interessant, dass eine starke ungarische ethnische Identität, die viel Wert auf „traditionelle Wurzeln“ legt, eine Person auch in Richtung der chinesischen Medizin treiben kann.

Conclusio

Die Studie stellt die scheinbar individuelle Wahl der Umstellung auf KAM in einen kulturellen Kontext. Der wichtigste Vorzug ist, dass durch die Erforschung einer bestimmten Praxis, nämlich der der KAM-NutzerInnen, auch die zersplitterte Natur des Selbst der Spätmoderne deutlich wird, das gezwungen ist, eine erhöhte Verantwortung für individuelle Entscheidungen zwischen konkurrierenden Kosmologien und Ätiologien zu übernehmen. Die Studie zeigt auch, dass es in jedem medizinische System (einschließlich Biomedizin) nicht nur darum geht, die richtige Behandlung zu finden, sondern es gleichermaßen wichtig ist, den PatientInnen dabei behilflich zu sein, irgendeine Art von Kohärenz in einer ansonsten inkohärenten Welt zu finden. Durch die Identifikation der Motive der PatientInnen, auf alternative Behandlungen umzusteigen, hält die Studie der Biomedizin den Spiegel vor, hilft bei der Identifikation und Erfassung von Bedürfnissen, die in einem biomedizinischen Gesundheitssystem häufig unerfüllt bleiben.