Ich will keine Frauen dabei haben

Das Ereignis

Während meiner Zeit als Medizinstudentin arbeitete ich eine Weile in einem großen und belebten Krankenhaus in Palermo. Während dieses Praktikums in der Abteilung für Urologie assistierte ich einem Arzt in der urologischen und onkologischen Ambulanz.

Als ich dem Arzt bei einer medizinischen Untersuchung eines älteren, männlichen Patienten assistieren sollte, weigerte dieser sich, die Untersuchung in meiner Anwesenheit fortzuführen. Der Patient sagte: „Ich will keine Frauen dabei haben.“

Die Situation hat mich verärgert, besonders deswegen weil er das nicht gesagt hatte, weil ich in Ausbildung war, sondern weil ich eine Frau war. Allerdings bestand der Arzt darauf, die medizinische Untersuchung in meiner Anwesenheit fortzuführen. Der Arzt machte dem Patienten unmissverständlich klar, dass seine Forderungen nicht akzeptiert werden würden und dass es keine Option sei, dass die weiblichen Mitarbeiterinnen den Raum verließen.

Der Patient akzeptierte die Entscheidung des Arztes nur ungern und mir wurde dann erlaubt, den Patienten zu untersuchen.

 

1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen

Bei der Erzählerin handelt es sich um eine italienische Medizinstudentin. Sie ist zum Zeitpunkt des Vorfalls 24 Jahre alt und absolviert ein Hochschulstudium. Sie ist Katholikin.

Der Patient ist ein älterer italienischer Mann. Sein Bildungshintergrund ist niedrig.

Außerdem waren zwei Pflegehelferinnen und ein Arzt, der in der urologischen Abteilung arbeitete, anwesend.

2. Setting und Kontext

Der Vorfall fand in der urologischen und onkologischen Ambulanz eines sehr belebten Krankenhauses in Palermo statt.

Im Krankenhaus war es hektisch, die Arbeitsatmosphäre war stressig.

Trotz dieser Umstände nimmt sich das Personal die Zeit, um auf die Bedürfnisse der PatientInnen einzugehen.

3. Emotionale Reaktion

Die Erzählerin war verärgert, wütend und enttäuscht aufgrund des mangelnden Respekts der ihr und ihrer Kollegin entgegengebracht wurde. Dieser Vorfall beleuchtet die Zurückhaltung des Patienten bei der Behandlung durch eine Frau gut und zeigt seine sexistische Einstellung: der “Arzt” ist der Mann ist und die Frau ist nicht gleichberechtigt. Dies wurde auch dadurch bestätigt, dass der Patient, obwohl die Ärztin in Ausbildung genauso wie der Arzt gekleidet war wie der männliche Arzt (weißer Kittel) und er niemanden im Krankenhaus kannte, er ihn mit „Guten Morgen Herr Doktor“ und sie mit „Guten Morgen meine Damen“ begrüßte.

4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat

1) Geschlechtergerechtigkeit

In diesem Fall hat der Patient die Erzählerin und die anderen MitarbeiterInnen nicht direkt beleidigt. Jedoch hat er durch sein Verhalten indirekt eine gewisse Spannung erzeugt und wenig Feingefühl für die berufliche Rolle der Frauen innerhalb des Krankenhauses gezeigt.

Die Erzählerin ist für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie verabscheut Vorurteile, in denen Frauen als weniger qualifiziert wahrgenommen werden als Männer und wo Frauen durch vermeintlich natürliche Ursachen als minderwertig betrachtet werden und Arbeitsplätze mit weniger Verantwortung übernehmen.

In diesem Moment merkte die Erzählerin, dass es in manchen beruflichen Bereichen noch immer ein Nachteil ist, eine Frau zu sein. Dies wurde hier fast symbolisch bestätigt, als der Patient nur den männlichen Arzt, als den einzigen Arzt im Raum und als die einzige Person der Ärzteschaft wahrnahm. Obwohl die Erzählerin und alle anderen weiblichen Fachkräfte genauso wie der Arzt gekleidet waren (weißer Kittel) und der Patient niemanden im Krankenhaus kannte, begrüßte er das Fachpersonal mit „Guten Morgen Herr Doktor, guten Morgen meine Damen“.

2) Hilfsbereitschaft/Professionalität:

Die Erzählerin verhält sich während ihrer Arbeit professionell und erwartet von den PatientInnen einen gewissen Respekt für ihren Beruf. Sie glaubt an ihre Berufung, anderen zu helfen und möchte für diesen und ihre berufliche Haltung respektiert werden.

5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?

Aus der Analyse entsteht ein negatives Bild, da die Erzählerin von der Realität enttäuscht ist.

6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)

Bedrohung der Autonomie

Der Patient könnte das Bedürfnis haben, seine Intimität zu bewahren, da es für ihn unangenehm sein könnte, sich vor vier Ärzten zu entblößen. Dabei spielt nicht nur die Nacktheit eine Rolle, sondern auch der Mangel an Kontrolle, während er untersucht wird.

Intimität und Geschlechterrollen

Der Patient möchte sein Recht auf Intimität wahren. Über die Ursache der Behandlung gibt es nur sehr wenige Hinweise, allerdings wissen wir, dass die Behandlung in der urologischen Ambulanz stattfand. Dadurch dass der Patient ein Mann ist und weibliche Ärztinnen im Raum sind, fühlt er sich womöglich unwohl. Wir fühlen uns normalerweise wohler und entspannten, wenn wir uns vor einer Person des gleichen Geschlechts ausziehen. Der Patient ist in diesem Fall nicht in der Lage die Frauen auch als Ärzte anzusehen; er sieht sie nur als Menschen des anderen Geschlechts.

Ärzteschaft und Geschlechterrollen

Es könnte auch sein, dass der Patient die Annahme vertritt, dass dieses spezifische Feld der Medizin (Urologie) nur von männlichen Ärzten ausgeführt werden soll. Er könnte davon überzeugt sein, dass nur Männer intimen männlichen Körperteile verstehen und dieser Beruf nicht von Frauen ausgeübt werden sollte, denn egal wieviel sie auch darüber lernen würden, würden sie den männlichen Körper nie verstehen.

7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?

Bei der vorliegenden Situationen handelt es sich um ein kritisches Ereignis, da die Erzählerin eine negative Überraschung erleben musste. Sie wird Zeugin, wie männliche Ärzte gegenüber weiblichen Ärztinnen bevorzugt werden. Dies ist vor allem bei Männern der Fall, wenn es um deren Intimität geht. Gleichzeitig kann man festhalten, dass dies nicht auf die Intimität der Frauen zutrifft, denn der Beruf der Gynäkologie wird von einer Vielzahl von Männern ausgeübt.

Der Vorfall hebt noch ein anderes Thema hervor: Das Vertrauen in die Arzt-Patienten-Beziehung ist wichtig und in diesem Fall wurde das Vertrauen in den Arzt durch die Anwesenheit der weiblichen Ärztinnen im Untersuchungsraum gebrochen. Die Art und Weise, wie der Patient handelte, zeigte einen Mangel an Respekt für die weiblichen Ärztinnen und für den Beruf, da er nicht in der Lage war, über das Geschlecht hinwegzusehen.