Der Medikamenten-Zeitplan
Das Ereignis
Meine Mutter ist eine Sikh, sie ist über 80 Jahre alt und ihre Muttersprache ist Punjabi. Ihre Englischkenntnisse sind eingeschränkt. Sie war gerade im Krankenhaus, als der Kulturschock geschah. Die Krankenpflegerinnen verabreichten Patienten ihre Medikamente bereits sehr früh am Morgen – gemäß dem Zeitplan für die Medikation.
Meine Mutter allerdings – da sie eine getaufte Sikh ist – duscht sich zuerst, nachdem sie aufgestanden ist, betet dann ihre täglichen Gebete und erst dann kann sie etwas essen oder trinken.
Ohne ihre Kultur zu verstehen und ohne dass sich die ältere Frau dem Personal mitteilen konnte, verweigerte sie die Medikation so früh am Morgen. Das Personal hat angenommen, dass sie die Medikation an sich ablehnt und darauf bestanden, dass sie eingenommen wird. Das Problem war aber nicht die Patientin, sondern nur der Zeitpunkt der Einnahme.
Die Pflege hat nicht zu ihren Bedürfnissen gepasst, etwa das Frühstück um 9 Uhr, das viel zu spät für sie ist, weil sie Diabetikerin ist. Die Regeln mit der Medikamenteneinnahme um Punkt 8 Uhr waren in Stein gemeißelt. Das Personal auf der Station hat jeden Tag gewechselt, sodass wir als Familie jeden Tag aufs Neue auf die Bedürfnisse der Mutter hinweisen mussten. Das Personal steht unter Druck, jedem Patienten zur selben Tageszeit seine Medikamente zu verabreichen. Es war niemand da, der Punjabi sprach, und meine Mutter nickte nur ja/nein, wenn sie etwas gefragt wurde, weil sie gar nicht verstand, was der Inhalt der Frage war.
1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen
Erzähler: Sohn der Patientin, männlich, ca. 60 Jahre alt, Vater, Sikh, religiös, Vorsitzender des Warwick District Faith Forums, aktives Gemeindemitglied.
Patientin: weiblich, Sikh, Mitte 80, Magen-Darmbeschwerden, innere Blutungen mit Risiken einer Leberinfektion, keine mobile Pflege und Betreuung zuhause, familiäre Unterstützung ist ihr sehr wichtig, geringfügige Englischkenntnisse, Muttersprache Punjabi.
MitarbeiterInnen des Krankenhauses.
2. Setting und Kontext
Krankenhaus: Station, in der sich PatientInnen und MitarbeiterInnen aufhalten.
3. Emotionale Reaktion
Stress und Frustration innerhalb der Familie, die immer wieder dieselben Informationen wiederholen müssen. Ihre Bedürfnisse werden nicht konstant berücksichtigt, auch wegen dem Mangel an Kontinuität beim Personal auf der Station. Die Familie fühlt den Stress, den dieser Zustand auf den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden der Mutter hat.
4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat
Wichtigkeit, die Religion der Patientin anzuerkennen – Der Sohn ist der Meinung, dass die Pflegekräfte die Religion der Mutter berücksichtigen müssen und was sie tun kann und darf und was nicht. Das könnte bei der Aufnahme abgefragt werden.
Diversity Management – Es sollte die Aufgabe des Krankenhauses sein, mit allen PatientInnen kommunizieren zu können, selbst die, die nicht genügend Englischkenntnisse aufweisen. Die Pflegekräfte sollten sicherstellen, dass sie die Fragen versteht oder eine/n Dolmetscher/in hinzuziehen.
Es sollte ein Aufwand betrieben werden, die Behandlung auf die religiösen Bedürfnisse der PatientInnen abzustimmen.
Professionalität – Der Sohn nimmt an, dass es zur professionellen Praxis gehört, Pflegedokumentationen zu besprechen und weiterzugeben und dass diese wichtige Information, wann die Patientin ihre Medikamente nehmen kann, enthalten ist. Er sollte diese Information nicht täglich neu geben müssen.
5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?
Negatives Bild der MitarbeiterInnen, die für die Mutter sorgten.
6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)
Wichtigkeit von Routineabläufen – Es ist ein Routineablauf, allen PatientInnen zur selben Zeit Medikamente zu verabreichen und es sind strenge Regeln und Zeitpläne damit verbunden.
Stress – Wegen Personalkürzungen stehen die MitarbeiterInnen mehr unter Druck, sich um die PatientInnen zu kümmern, und das mit weniger Ressourcen.
Wichtigkeit von Dienstübergaben und Pflegedokumentation – Dienstübergaben und auch schriftliche Pflegedokumentationen an die nächste Schicht an KollegInnen zu übergeben, wird als wichtig erachtet, kann jedoch aufgrund des Zeitmangels oft nicht in vollem Umfang stattfinden.
Vielfältige PatientInnen – MitarbeiterInnen haben es mit vielfältigen PatientInnen mit unterschiedlichen Muttersprachen zu tun und es steht nur in wenigen Fällen ein/e Dolmetscher/in zur Verfügung. Daher geht man davon aus, dass ein Kopfnicken Verstehen und Zustimmen bedeutet, und dass die Verweigerung, Medikamente einzunehmen, bedeutet, dass sie diese gar nicht einnehmen möchte.
7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?
Die nicht-individuelle Herangehensweise an PatientInnen in diesem Beispiel ist problematisch. PatientInnen sind Individuen mit individuellen Bedürfnissen im Gegensatz dazu, alle PatientInnen nach Schema F zu behandeln.
Der Verhaltenskodex unter Pflegepersonal könnte rechenschaftspflichtiger sein in dem Sinne, dass mehr Kommunikation zwischen dem Personal über die PatientInnen stattfindet und das Risiko, dass PatientInnen sich ständig wiederholen müssen, minimiert wird.
Krankenhäuser müssen schon bei der Aufnahme feststellen und festhalten, ob PatientInnen Sprachbarrieren haben und dann wenn möglich DolmetscherInnen zur Verfügung stellen.