Undankbarer, obdachloser Patient

Das Ereignis

Es war Februar. Ein obdachloser Patient, Mitte 50, ließ sich von mir behandeln. Er hatte ein durch Wundbrand verursachtes Geschwür am Unterschenkel, das von Würmern befallen war. Nach der regulären Behandlung mit Medikation, Vasodilator und Wundverbänden wurde er wieder gesund.

Nach zwei Monaten wollte ich ihn entlassen, aber der Patient – statt mir für meine Arbeit zu danken – beleidigt mich, beschimpft mich und sagt, dass er jetzt endlich gehen muss.

 

 

1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen

Ärztin: weiblich, Anfang 30, lebt in Budapest in einer Eigentumswohnung, Muttersprache Ungarisch, Nationalität Ukrainisch, ist vor 3 Jahren nach Ungarn gekommen und hat ihren Mann geheiratet, der Mann ist Polizist, keine Kinder, das ist ihr erster Job in Ungarn.

Patient: männlich, Ende 50, schlechter Allgemeinzustand, obdachlos seit mehr als 10 Jahren, lebt auf der Straße, schläft hin und wieder in Asyl- und Obdachlosenheimen, keine weiteren Informationen erhältlich, wurde vor 2 Monaten im Krankenhaus aufgenommen;

Die beiden haben eine klar hierarchische Beziehung zueinander, jedoch verbindet beide, dass sie wissen, wie es sich anfühlt, eine Minderheit anzugehören.

2. Setting und Kontext

Die Geschichte spielt in einem Krankenhaus, das sich auf obdachlose Personen spezialisiert hat. Für das Personal ist es eine bewusste Entscheidung gewesen, mit Obdachlosen zu arbeiten und sie kennen diese Zielgruppe gut. Es ist nicht das erste Mal, dass die Ärztin von PatientInnen beleidigt wird, aber aus irgendeinem Grund geht es ihr diesmal nahe, vor allem, weil sie sich speziell bei diesem Patienten für eine gute Behandlung eingesetzt hat und ihn aufgrund des schlechtes Wetters länger im Krankenhaus behalten hat. Der Patient war schon vorher informiert worden, dass er jetzt bald entlassen werden würde, allerdings gab es in der Vergangenheit auch immer wieder kurzfristige Entlassungen.

3. Emotionale Reaktion
  • Bitterkeit
  • Schock durch die Undankbarkeit des Patienten
  • Gefühl, getäuscht worden zu sein
  • Verzweiflung
  • Wut
  • Gefühl der Ohnmacht „ich kann ohnehin nichts für ihn tun“ – schlechtes Gewissen
  • Unwohlsein
4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat

Obdachlosigkeit: Sie glaubt, dass Obdachlosigkeit ein strukturelles Problem in der Gesellschaft ist und nicht, dass Obdachlose selbst verantwortlich für ihre Situation sind. Obdachlose verdienen Unterstützung und darum arbeitet sie mit ihnen.

Beruf der Ärztin: Es ist ihr Beruf, Menschen zu helfen, egal, wie die Umstände auch sein mögen. Die Grenzen zwischen Sozialarbeit und Medizin sind ihr aber bewusst. Sie weiß, dass sie nach seiner Entlassung nicht mehr für ihn zuständig ist (aber andere Berufsgruppen, die auch im Krankenhaus tätig sind).

Definition der Situation: Sie weiß, dass die Entlassung des Patienten bedeutet, dass er wieder auf der Straße landet. Er tut ihr leid, aber sie kann dann nichts mehr für ihn tun.

Selbst-Bild: Sie ist als Person in verschiedenen sozialen Situationen empathisch und tut alles, was in ihrer Macht steht, und darüber hinaus. Sie erwartet keine Dankbarkeit für ihre Arbeit, aber würde es schön finden, wenn man sie als Helferin (und nicht als Feind) betrachtet. Ihr wird bewusst, dass sie zwar nicht wegen der Anerkennung arbeitet, aber es normal finden würde, wenn PatientInnen dankbar sind.

5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?

Gemischte Gefühle: wütend, undankbar, irrational, aggressiv UND Mitleid und Verständnis

6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)

Zurück auf die Straße bedeutet für ihn, nach Hause zu gehen. Es war keine bewusste Entscheidung von ihm, auf der Straße zu leben, aber er hat sich daran gewöhnt. Allerdings ist es draußen kalt geworden und er hat sich im Krankenhaus daran gewöhnt, dass es drinnen warm und sicher ist. Er hat Angst.

Das Krankenhaus war seine vorübergehende Heimat, es bietet Schutz, Pflege und Wärme.

Die Ärztin ist die ihm im Moment nahestehendste Person, die auch bereit war, ihm zu helfen, und er hofft auf ihr Verständnis in dieser Situation.

Definition der Situation: Die Entlassung bedeutet Betrug: Die Ärztin sollte wissen, dass ihn diese Entlassung in Gefahr bringt.

7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?

Einen helfenden Beruf auszuüben, ist nicht immer einfach. Zu geben bedeutet, den anderen in eine Abhängigkeitsposition zu bringen, und es ist eine Belohnung für das Selbstbewusstsein. In einem institutionellen Kontext wird diese Hierarchie oft von PatientInnen abgelehnt, die sich eben nicht in eine Abhängigkeitsposition bringen wollen.

Ein Machtgefälle setzt die typischen Regeln, die in wechselseitigen Beziehungen gelten, hier außer Kraft: nicht beide müssen geben und nehmen. Im Gegenteil: das Personal muss stetig geben und bekommt vielleicht nie etwas zurück. Das muss verstärkt auch Inhalt von Fort- und Weiterbildungen sein, um Selbstschocks zu vermeiden.

Dieser Fall unterstreicht auch die Wichtigkeit von Teamarbeit, vor allem interdisziplinäre Teamarbeit mit Sozialarbeit, Psychologie etc.