Der Ganzkörperspiegel
Das Ereignis
Ich – als Leiterin der Abteilung für Gleichberechtigung und Diversität einer nationalen Gesundheitsbehörde „National Health Trust“ – und eine Rollstuhlfahrerin haben an dem Tag gemeinsam ein Audit zur Barrierefreiheit durchgeführt. Das Gebäude, das wir aufsuchen sollten, war ein nagelneues Rehabilitationszentrum in Warwickshire in England. Das Audit sollte mit der Hilfe einer Rollstuhlfahrerin durchgeführt werden, um die Barrierefreiheit praktisch zu testen.
Wir sind beide durch das Gebäude gegangen und gefahren und die Rollstuhlfahrerin hat mich auf drei Dinge aufmerksam gemacht, die auf der Toilette nicht barrierefrei benutzbar waren:
- Die Handseifenspender waren zu hoch an der Wand angebracht worden, sodass sie Rollstuhlfahrer nicht benutzen konnten.
- Die Mistkübel auf der Toilette konnten nur mit dem Fuß geöffnet werden und waren daher für sie auch nicht benutzbar.
- Die Rollstuhlfahrerin hat mich außerdem darauf hingewiesen, dass die Toilette keinen Ganzkörperspiegel hatte.
Der letzte der drei Punkte hat mich überrascht – warum brauchen Menschen mit einer Behinderung einen Ganzkörperspiegel? Sind Menschen mit einer Behinderung so eitel? Ich grübelte.
Nach einiger Zeit nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte die Rollstuhlfahrerin, was es mit dem Ganzkörperspiegel auf sich hatte. Sie antwortete, dass sie Teile ihres Körpers nicht spüre und dass sie nur in einem Ganzkörperspiegel überprüfen könne, ob sie sich wieder vollständig bekleidet hatte.
Ich war irgendwie enttäuscht von mir selbst, dass ich diesen Punkt nicht verstanden hatte, und fühlte mich dumm.
1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen
Erzählerin: weiblich, 60 Jahre alt, weiße Hautfarbe, aus England mit irischen Wurzeln, hat in England in ganzes Leben verbracht, ist katholisch aufgewachsen, ist verheiratet und hat erwachsene Kinder und 5 Enkelkinder. Sie hat ihr gesamtes Berufsleben für die nationale Gesundheitsbehörde „National Health Service (NHS)“ gearbeitet. Sie ist die Leiterin der Abteilung für Gleichberechtigung und Diversität dieser nationalen Gesundheitsbehörde. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist Inklusion und die Förderung von Gleichberechtigung. Zu ihrer Rolle gehört außerdem, Feedback von betroffenen Menschen einzuholen, Arbeitsstatistik auszuwerten und sicherzustellen, dass Gesundheitseinrichtungen eine/n Gleichberechtigungsbeauftragte/n haben.
Person, die den Schock ausgelöst hat: weiblich, ca. 60 Jahre alt, weiße Britin, gibt der nationalen Gesundheitsbehörde kritisches Feedback, sitzt im Rollstuhl, ehemalige Polizeibeamtin, die nach einem Unfall körperbehindert ist; sie ist pensioniert, aber dennoch sehr aktiv, indem sie z.B. als Beraterin für Gleichberechtigungsfragen und Barrierefreiheit zur Verfügung steht. Sie arbeitet freiwillig mit.
2. Setting und Kontext
Der Vorfall ereignete sich in einem nagelneuen Rehabilitationszentrum in South Warwickshire in England. Mit der Hilfe einer Rollstuhlfahrerin sollte ein Audit zur Barrierefreiheit durchgeführt werden.
Die Erzählerin und die Person im Rollstuhl kannten sich bereits vor dem Vorfall durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe, die sich ca. 4-5 Mal pro Jahr trifft.
Der Zweck des Audits war es, Probleme der Erreichbarkeit und des barrierefreien Zugangs im Rehabilitationszentrum zu identifizieren. Das beinhaltete auch Feedback zu physischen, kommunikativen oder kulturellen Barrieren.
Der Kulturschock ereignete sich, als die Person im Rollstuhl die Behindertentoilette aufsuchte. Sie wies darauf hin, dass es keine Ganzkörperspiegel geben würde und die Erzählerin fragte nach, warum das nötig sei. Sie antwortete, dass man im Rollstuhl einen Ganzkörperspiegel benötigte, um die Kleidung zurechtzurücken und so die eigene Würde zu wahren. Die Erzählerin war geschockt und schämte sich, dass sie daran gar nicht gedacht hatte.
3. Emotionale Reaktion
Die Erzählerin war wegen ihrer eigenen Naivität geschockt. Sie konnte den Wunsch nach einem Ganzkörperspiegel trotz ihrer langjährigen Berufserfahrung nicht zuordnen.
Sie war von sich selbst enttäuscht.
4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat
“Spiegel”: ein Instrument für ästhetische Bedürfnisse, das unserer Eitelkeit dient. Ein Ganzkörperspiegel impliziert sogar noch mehr Eitelkeit. Dadurch wird das implizite Spannungsfeld zwischen Eitelkeit und einem behinderten Körper sichtbar.
Bedrohung des Selbstbildes als langjährige Gleichbehandlungsexpertin: Als eine nicht beeinträchtigte Person konnte sich die Erzählerin nicht vorstellen, wie es wäre, im Rollstuhl zu sitzen. Als Gleichbehandlungsexpertin hätte sie sich hineinversetzen sollen. Sie war verärgert. Das hätte sie wissen sollen. Sie schämte sich auch in ihrer Rolle als Expertin.
Schwierigkeit, die Perspektive zu wechseln: Die Erzählerin sah sich selbst als nicht-beeinträchtigte Person und aus genau dieser Perspektive und konnte den Perspektivenwechsel zu einer Person im Rollstuhl nicht vollziehen. Es ist schwierig, Barrieren zu identifizieren, wenn man selbst nicht betroffen ist und keine körperliche Behinderung hat.
5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?
Positiv – und negativ für sie selbst.
6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)
Partizipative Audits zur Barrierefreiheit sind notwendige Maßnahmen, da nicht-behinderte Menschen die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht oder weniger einschätzen können und es schwierig ist, in die Fußstapfen eines anderen zu treten.
Ganzkörperspiegel: nicht nur ein Instrument für Eitelkeit, sondern ein Instrument, mit dem Menschen im Rollstuhl sich und ihren Körper in Ordnung bringen können. Menschen mit Bewegungseinschränkungen können vielleicht ihren Kopf nicht weit genug bewegen, um zu sehen, ob ihre Kleidung sie vollständig bedeckt oder nicht. Der Spiegel wird zu einem Instrument der Würde, der hilft, das Selbstbild zu erhalten, und nicht vor anderen unordentlich oder schlampig auszusehen.
7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?
Die Geschichte ist eine Veranschaulichung, wie schwierig es ist, sich in andere hineinzuversetzen, vor allem in Menschen mit besonderen Bedürfnissen.
Sie zeigt auch, wie die Interpretation eines einzelnen Dings – eines Spiegels – von einem Referenzrahmen zum anderen variiert. Der Spiegel hat unterschiedliche Bedeutung für jemanden mit und ohne Behinderung.
Eitelkeit und Schönheit, sind Bedürfnisse, die mit Personen ohne Behinderungen verknüpft sind, und mit behinderten Körpern nicht in Verbindung gebracht werden. Ein Körper mit Behinderungen sollte verdeckt werden, anstatt hübsch präsentiert zu werden.
Abschließend zeigt die Geschichte die Wichtigkeit von partizipativen Audits auf, in denen Personen aus der Zielgruppe involviert sind.