Häusliche Gewalt

Das Ereignis

Ich wurde wegen Atemwegsbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Es wurden Tests gemacht, um die Ursachen dafür zu eruieren. Auf einem Röntgenbild sah man schließlich, dass mein Brustbein disloziert war. Obwohl ich wusste, dass diese Verletzung ihren Ursprung in häuslicher Gewalt hatte, wollte ich das dem Personal nicht mitteilen. Ich wurde für zwei Wochen aufgenommen – zur Beobachtung und damit der Heilungsprozess voranschreiten konnte. Während meines Aufenthalts beobachtete eine der Krankenschwestern, dass etwas nicht ganz stimmen konnte, da ich keine Besucher hatte und Prellungen und Blutergüsse an anderen Stellen meines Körpers.

Ich enthüllte schließlich meine Erfahrungen mit häuslicher Gewalt und die Krankenschwester verwies mich an die Sozialarbeiterin des Krankenhauses. Diese kam mich besuchen und ich erzählte ihr von den Gewalterfahrungen der letzten Jahre. Ich sagte ihr auch, dass ich mich aus der Situation befreien wollte, aber Hilfe brauchte. Sie sagte, sie müsse mit ihrem Vorgesetzten über den Fall sprechen und dass sie zurückkommen würde. Das geschah sicher, weil sie sich wegen meiner „Kultur“ nicht sicher war, wie sie mit mir umgehen sollte. Als sie zurückkam, sagte sie mir, dass sowohl sie als auch ihr Vorgesetzter der Meinung waren, dass sie alles nur schlimmer machen würden, wenn sie einschritten, und dass es besser wäre, nichts zu unternehmen. Sie sagte auch, dass sie wenig Erfahrung mit Asiaten hätten und die Situation für mich nicht verschlimmern wollten.

Ich brauchte eine Menge Mut, um mich der Krankenschwester überhaupt zu öffnen und es dauerte noch einige Jahre, bis ich mich aus der Situation befreien konnte.

 

1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen

Patientin: Weiblich, 23 Jahre alt, Britin mit indischen Wurzeln, geboren in Großbritannien und im dritten Jahr ihres Studiums an der Universität (Teilzeitstudentin). Sie arbeitet als Rezeptionistin in einem Team von SozialarbeiterInnen, sie ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Sie lebt mit ihrer erweiterten Familie zusammen (mit ihren Schwiegereltern). Sie ist nicht-praktikzierende Sikh.

Sozialarbeiterin: Weiblich, Ende 40, weiße Britin. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im Krankenhaus, Herkunft: Mittelschicht.

2. Setting und Kontext

Der Kulturschock fand im Krankenhaus Warwickshire statt. Es handelt sich um eines von zwei öffentlichen Spitälern in der Region Warwickshire.

3. Emotionale Reaktion

Die Patientin war schockiert, dass die Sozialarbeiterin Angst hatte, etwas zu unternehmen – und das weil sie sich mit der asiatischen Kultur nicht auskannte. Noch dazu musste sie wegen ihrer Unsicherheit ihren Vorgesetzten mit einbeziehen.

Die Patientin fühlte sich von der Sozialarbeiterin im Stich gelassen, weil sie ihr keine Hilfe anbot – aus Angst, alles nur schlimmer zu machen.

Sie war auch wütend und frustriert, weil sie keine Unterstützung erhielt. Es war das erste Mal, dass sie um Hilfe gebeten hatte, was Mut erforderte, und sie fühlte sich, als hätte das alles gar nichts gebracht. Sie fühlte sich in der Situation gefangen.

4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat

Rolle der Sozialarbeiterin – Die Patientin erwartete, dass die Sozialarbeiterin in ihrer professionellen Rolle als Beschäftigte im Gesundheitssektor ihr – als Opfer häuslicher Gewalt – zu Hilfe kam.

Erwartungshaltung Mitgefühl mit anderen Frauen – die Patientin nahm an, dass die Sozialarbeiterin ihre Situation verstehen würde und auch emotional reagieren würde. Sie hoffte, dass sie mit Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, mitfühlen würde.

Gewalt ist nicht richtig und sollte nicht toleriert werden. Wenn eine Frau dann um Hilfe bittet, sollte sie sie erhalten.

Gleichheit und Anti-Diskriminierung – ein Ansuchen um Schutz vor häuslicher Gewalt sollte gleich behandelt werden – egal von welcher Person es stammt, egal woher die Frau kommt.

Hierarchie – die Patientin verließ sich darauf, dass die Beschäftigten ExpertInnen in ihrem Tätigkeitsfeld waren und daher am besten geeignet, um Opfern von Gewalt zu helfen.

Überschreitung ihrer Pflichten als Ehefrau – durch das Geständnis an die Sozialarbeiterin befleckt die Patientin den Ruf ihres Mannes, was als Respektlosigkeit oder Angriff auf die Würde des Mannes und der Familie aufgefasst werden kann. Die vorher verdeckte häusliche Gewalt wird dadurch öffentlich, dass sie mit einer öffentlichen Person (der Sozialarbeiterin) geteilt wird, und das kann zu Scham bei der Familie oder der Community führen, in der die Betroffenen leben.

5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?

Negativ und ablehnend.

6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)

Professionelles Rollenverhalten – es gehört nicht zur Aufgabe einer Sozialarbeiterin, sich mit kulturellen Differenzen auseinanderzusetzen.

Kulturelle Differenzen sollten respektiert werden, selbst wenn sie für einen selbst irritierend sind. Die Sozialarbeiterin empfand vielleicht keine Notwendigkeit, die kulturelle Lebenssituation der Frau oder kulturelle Muster genauer zu hinterfragen.

Geschlechtergerechtigkeit – Die Sozialarbeiterin ist sich dessen bewusst, dass es kulturelle Unterschiede gibt, und dass es auch Geschlechterunterschiede in der Ausübung von Macht zwischen Männern und Frauen gibt. Sie akzeptiert anscheinend eine Doppelmoral: was in einer Mehrheitskultur als inakzeptabel gilt (dass ein Mann eine Frau missbraucht), gilt in einer Minderheitskultur als akzeptabel.

Anwendung unterschiedlicher Regeln – Es gibt in bestimmten Subkulturen unterschiedliche Regeln und diese gelten womöglich in anderen Subkulturen nicht, selbst wenn es um Gewalt geht.

Hierarchische Kommunikation – Vorurteile über die Kultur der Frau dominieren ihr Verhalten der Frau gegenüber, ungeachtet dessen, was diese erzählt hat. Die Entscheidung wird mit einem Vorgesetzten abgestimmt und die Patientin wird in die Entscheidungsfindung nicht einbezogen. Ihre Meinung ist sekundär.

7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?

Beschäftigte im Gesundheitsbereich sind oft überfragt, ob und in welchem Ausmaß sie den kulturellen Hintergrund der PatientInnen berücksichtigen sollen. Auf der einen Seite könnten sie damit konfrontiert werden, kulturellen Unterschieden unsensibel gegenüberzutreten, aber sie könnten auch in die Falle treten, kulturelle Unterschiede in Situationen unnötig zu verstärken.

In einer Situation Kultur als einzigen Erklärungsfaktor heranzuziehen, in der auch andere Faktoren eine Rolle spielen, ist ein Vorurteil und wird Kulturalisierung genannt. In Extremfällen kann dieses Vorurteil dazu führen, dass in einer Krisensituation gar nicht reagiert wird – aus Angst, einen kulturellen „faux pas“ zu begehen.

Das kann dadurch verstärkt werden, dass das Personal Angst hat, PatientInnen direkt danach zu fragen, was sie nicht wissen, und so keine Klarheit gewonnen wird. Damit bleibt es bei einer manchmal fehlerhaften Erstinterpretation der Situation.