Gekündigter Pflegedienst

Das Ereignis

Mein Mann was sehr krank und wurde zu Hause gepflegt. Wir leben in einer Wohnwagensiedlung. Mein Mann litt an mehreren Erkrankungen und musste Medikamente nehmen. Aus diesem Grund haben wir einen mobilen Dienst in Anspruch genommen, bei dem eine Krankenpflegerin zu uns nach Hause kommt und ihm seine Medikamente verabreicht.

Eine höhergestellte Krankenpflegerin kam an diesem Tag zu uns, um einzuschätzen, ob der Dienst für uns immer noch adäquat und passend war, und stellte fest, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich wusste nicht warum. Ich sagte der Frau, dass ich weder lesen noch schreiben konnte und die Medikation nicht verstand. Sie beendete die Dienstleistung trotzdem und ich tat mir danach schwer, die Medikation zu verstehen. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht wusste, was ich meinem Mann speziell zur Schmerzlinderung verabreichen sollte. Mein Mann wurde drei Wochen später ins Krankenhaus eingeliefert.

Ich hatte Angst, dass ich nicht ordentlich für meinen Mann sorgen konnte und ihm nicht die richtigen Medikamente geben konnte. Die Krankenpflegerin hätte das verstehen müssen, dass nicht jeder lesen und schreiben kann. Ich habe das Gefühl, dass sowohl meine als auch die Bedürfnisse meines Mannes ignoriert worden sind.

 

1. Soziale Identitäten der beteiligten Personen

Erzählerin: weiblich, circa 70 Jahre alt, Hausfrau, Pflegerin für ihren Mann, der ca. 10 Jahre älter ist, Angehörige der irischen Nomaden „Irish Traveller“ – eine traditionell nomadische Gemeinschaft mit Wurzeln in Irland, die eine eigene Subkultur, Identität und Kultur im Allgemeinen haben.

Höhergestellte Krankenpflegerin: weiblich, ca. Ende 40 Jahre alt, weiße Britin

Ehemann: männlich, ca. 80 Jahre alt, Angehöriger der irischen Nomaden „Irish Traveller“, verschiedene gesundheitliche Probleme inkl. Atemwegsprobleme, Krebs, Herzleiden

2. Setting und Kontext

Der Vorfall ereignete sich bei der Erzählerin zu Hause. Während des Besuchs der Krankenpflegerin waren die Erzählerin und ihr Mann anwesend.

3. Emotionale Reaktion

Die Erzählerin war schockiert, weil die Krankenpflegerin ihre Bedenken, nicht lesen und schreiben zu können, nicht gehört und berücksichtigt hatte. Sie hatte Sorge, ihrem Mann nicht die richtigen Medikamente verabreichen zu können. Sie fühlte sich hilflos und wütend. Sie hatte außerdem Angst, dass sie ihren Mann nicht ordentlich versorgen konnte.

4. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der EIGENEN PERSON: Referenzrahmen der Person, die den Schock erlebt hat

Versorgung und Expertenstatus – Die Erzählerin geht davon aus, dass es zu den Aufgaben der Krankenpflegerin gehört, Medikamente zu verabreichen, und dass eine Expertin besser dafür geeignet ist als sie als Laiin.

Kompetenz als Pflegerin – Die Erzählerin fühlt sich nicht zuversichtlich genug, für ihren Mann zu sorgen, da sie die Medikamentennamen nicht lesen bzw. dosieren kann, und den Gesundheitszustand ihres Mannes nicht verschlechtern will.

Versorgungsrolle – Sie war immer in der Rolle der Hausfrau und Mutter, und ihre Aufgabe bestand immer darin, ihren Mann zu versorgen.

Hierarchiedenken – Die Erzählerin dachte, die professionelle Krankenpflegerin würde es besser wissen und dass sie eine Person wäre, die man eher nicht in Frage stellt.

5. Welches Bild der anderen handelnden Person (oder Personengruppe) entsteht abgeleitet aus der Analyse von Punkt 4?

Negativ und geringschätzend.

6. Dahinterliegende Werte, Normen, Repräsentationen, Vorstellungen, Vorurteile der ANDEREN PERSON: Referenzrahmen der Person (oder Personengruppen), die den Schock “ausgelöst” hat (haben)

Effizienz – Die höhergestellte Krankenpflegerin dachte vielleicht, dass die Angehörige selbst die Medikamente verabreichen sollte, da es aufgrund von Personalkürzungen immer schwieriger wurde, mobile Dienste inkl. Wegzeiten aufrecht zu erhalten, obwohl es „nur“ um die Verabreichung von Medikamenten ging.

Verantwortung innerhalb der Familie – für einfache Pflege und Betreuung benötigt man keine spezifischen, medizinischen Kenntnisse, daher kann die Verabreichung von Medikamenten von der Familie erfolgen.

Wenig Bewusstsein für den sozialen und kulturellen Kontext der Familie – Die Krankenpflegerin hatte wenig Bewusstsein für den Kontext der irischen Nomaden bzw. dachte vielleicht nicht, dass dieses Kontextwissen für ihre Entscheidung relevant sei. Das Bewusstsein, dass viele irische Nomaden nicht lesen und schreiben können, war nicht vorhanden.

Analphabetismus – Weil die Krankenpflegerin nicht erkannt hatte, dass die Frau Analphabetin war, nahm sie an, dass sie die Medikamentennamen und Beipackzettel ohne Schwierigkeiten entziffern konnte. Sie hat die Probleme, die mit Analphabetismus verbunden sind, sicherlich unterschätzt.

Direkte, hierarchische Kommunikation – Während des Besuchs der Krankenpflegerin fand sie nicht heraus, dass hinderliche Faktoren in der Familie vorlagen, wie der Analphabetismus der Ehefrau. Sie war vielleicht eine direkte, verbale Kommunikation gewohnt, wo wichtige Informationen eventuell durch den Rost fallen oder ausgespart werden.

7. Ableitung von Empfehlungen: Welche generellen Probleme zeigen sich anhand des Ereignisses im Hinblick auf die berufliche Praxis oder den Umgang mit Differenzen in interkulturellen Situationen? Welche Handlungsempfehlungen können wir für die Praxis aussprechen?

Informationen über den sozialen und kulturellen Hintergrund von PatientInnen scheinen für Beschäftigte im Gesundheitsbereich oftmals – im Gegensatz zu medizinischen Fakten – sekundär oder sogar überflüssig zu sein, obwohl in manchen Fällen in diesen Hintergrundinformationen entscheidende Informationen zu finden sind, die eine adäquate Behandlung verhindern können.

Eine besondere Schwierigkeit tritt auf, wenn kulturelle und soziale Faktoren zusammenspielen, und unbeteiligte Dritte vor der Herausforderung stehen, wie gewisse Muster einzuordnen oder zu interpretieren sind, so wie im Falle von Analphabetismus. Ist das Problem Teil der Subkultur? Oder eine Folge von niedrigem Bildungsniveau? Zum interkulturellen Verständnis im Gesundheitsbereich zählt auch das Verstehen von Unterschieden in der sozialen Lage und den Folgen von Armut. Es ist besonders wichtig, die Auswirkungen von Analphabetismus zu kennen.